Die Reportage

Von einem unserer ersten Erlebnisse in Ahungalla handelt eine Reportage, die im Jänner 2023 in der Tageszeitung Presse abgedruckt wurde. Hier der Text in seiner vollen Länge und mit Bildmaterial. Anschließend der Link zur Onlineausgabe von der Presse.  

Strand der guten Hoffnung

In Reiseführern und Blogs wird eindringlich vor ihnen gewarnt, vor den „beach boys“, die auf Sri Lanka Urlaubsgäste ansprechen. Von ihrem Alltag, der sich rund um das Dorf Ahungalla, seinen Strand und die nächstgelegenen Sehenswürdigkeiten erstreckt und der von globalen ebenso wie von lokalen Krisen geprägt ist, erzählen Chami, Anuranga und Moganraj.

Von Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber


„Ich lüge manchmal. Wenn ich keine Lügen erzähle, reden die Leute am Strand nicht mit mir.“ Chamis Gesicht ist ernst. Er nickt uns zu und wir greifen zu den Tassen, die vor uns auf dem Couchtisch stehen. Der Tee schmeckt würzig. Seine milde Süße verdankt er Jagara, dem Palmzucker. Auf dem Sofa in Chamis Wohnzimmer haben wir Platz genommen, um mehr über ihn und seine Arbeit zu erfahren. „Das ist mein Beruf. Ich spreche Touristen an und zeige ihnen etwas. Ich bringe sie zum Beispiel in den Kräutergarten oder zur Mondstein-Mine.“

Auf diese Weise haben auch wir Chami kennengelernt. An unserem ersten Nachmittag am Strand von Ahungalla im Südwesten Sri Lankas hat er uns angesprochen und sich geschickt durch unser abweisendes Verhalten hindurch manövriert: Dort, wo wir untergebracht sind, arbeite er als Koch, heute sei sein freier Tag. Und Österreich, ja, in Wien, da habe er einen Freund, einen Schriftsteller, der vor ein paar Jahren hier gewesen sei. Bis heute würden sie einander schreiben. Sowohl der Name als auch die Buchtitel, die er uns nennt, sind uns bekannt. Wir fassen Vertrauen: einen Kräutergarten besuchen, warum auch nicht? Schließlich verspricht uns der Mann mit dem runden Gesicht und dem Dreitagebart mehrmals, dass es nichts kosten würde. „Kein Geld, kein Geld.“ Kaum haben wir eingewilligt, fährt schon ein grünes Tuk Tuk vor. Nach wenigen Minuten Fahrt biegen wir von der belebten Galle Road in eine Seitenstraße und halten vor einer Mauer, von der ein Schild mit der Aufschrift spice garden baumelt. Wir geraten in den Redefluss eines anderen Mannes, der uns am Tor in Empfang nimmt. Im Vorübergehen weist er auf diese und auf jene Pflanze, nennt ihre englischen Namen. In einer gemauerten Laube nehmen wir auf Holzbänken Platz. Uns gegenüber sitzt der Mann auf einem Plastikstuhl und redet noch immer. Wir bekommen Tee serviert und allerhand Fläschchen vorgeführt: Dieses Mittel sei gut bei Leberbeschwerden, dieses wiederum bei Haarausfall. Schließlich kündigt der „Doktor“, wie er uns am Eingang vorgestellt wurde, an, seine wissenschaftlichen deutschsprachigen Grundlagen offenzulegen. Bei „german speaking“ werden wir hellhörig: Sollte es sich bei den Lehren von Ayurveda nicht eher um Sanskrit oder, wenn zeitgenössischer und regionaler, zumindest um Sinhala oder Tamil handeln? Hervor zaubert unser „Doktor“ auch kein altehrwürdiges Buch sondern ein zerfleddertes Exemplar des Sachbuch-Bestsellers Darm mit Charme. Jetzt wird es für uns wirklich Zeit zu gehen. Der Weg aus dem Kräutergarten hinaus führt allerdings durch die „pharmacy“, die Apotheke, wo wir uns mit pflanzlicher Arznei eindecken sollen. Die Regale sind gefüllt mit Fläschchen, auf keinem befindet sich ein Preisetikett. Halbherzig ziehen wir eines heraus, fünfzig Euro werden uns dafür verrechnet. Als wir mittlerweile schon ziemlich verärgert gehen wollen, sind es plötzlich nur noch zwanzig Euro, die das Fläschchen kostet. Wir weigern uns trotzdem und rauschen durch den Garten zum Tuk Tuk zurück, wo der Fahrer und der Mann, der uns am Strand angesprochen hat, auf uns warten. Die Rückfahrt verläuft schweigsam. Wir fühlen uns hintergangen. Wurde uns nicht versprochen, dass „kein Geld, kein Geld“ im Spiel sein sollte?


Nicht ganz so billig


Das Gefühl, auf dieses Dreier-Gespann von „beach boy“, Tuk Tuk Fahrer und angeblichem „Doktor“ hereingefallen zu sein, nagt an uns. Daran, dass dieser ‚Trick‘ vor allem für die drei nicht ganz so billig war, denken wir erst Tage später. Verdient hat schließlich keiner von ihnen, Zeit und Geld für Treibstoff haben sie trotzdem investiert.

Als „beach boys“ werden in gängigen Reiseführern zu Sri Lanka „hartnäckige Dampfplauderer, die vor allem dein Geld wollen“ (Marco Polo 2020) oder „Nepper und Schlepper“ (Baedeker 2019) bezeichnet, die für Touren zu angeblichen Highlights „Fantasiepreise“ verlangen. In diversen Reiseblogs wird eindringlich vor ihnen gewarnt. Wie kommen die meist relativ jungen Männer dazu, ihre Tage damit zu verbringen, auf den Stränden Touristinnen und Touristen „aufzulauern“, um ihnen „das Geld aus der Tasche zu ziehen“?

„Ich liebe meinen Beruf, denn ich hab’ keinen anderen. Ich habe nichts anderes gelernt“, meint Chami als er uns zusieht, wie wir in seinem Wohnzimmer unseren Tee trinken. Immer wieder öffnet sich die Tür einen Spaltbreit und Sandasi, seine neunjährige Tochter, lugt herein. Sobald wir ihr einen Blick zuwerfen, kichert sie und schlägt die Tür schnell wieder zu. Er selbst sei insgesamt drei Jahre zur Schule gegangen, für Sandasi wünsche er sich eine bessere Ausbildung. Die Einkünfte seines Vaters als Fischer hätten nicht gereicht, um ihn und seine vier Geschwister für längere Zeit in die Schule zu schicken. Also sei er schon als Junge in einem der schmalen hölzernen Ruderboote mit hinausgefahren, um dabei zu helfen, die Netze auszuwerfen. Am 26. Dezember 2004 sind sein Vater und er am Strand gewesen: „Zuerst kam eine kleinere Welle. Dann zog sich das Meer über 300 Meter zurück, dann kam die große Welle, die über einen halben Kilometer ins Landesinnere schwappte. Ich hatte keine Zeit, wegzulaufen, ich kletterte eine Kokospalme hoch, wie ein Affe. Mein Papa ist im Tsunami gestorben.“ Nach dem Tod seines Vaters lernt Chami Deutsch, um sich besser verständigen zu können: „Als ich die ersten Male am Strand gewesen bin, konnte ich mit den Touristen nicht sprechen. Manche von ihnen verschenken Kaugummis, manche Kugelschreiber. Jeden Tag lief ich fünf Kilometer, zehn Kilometer, jeden Tag laufen, laufen, laufen. Dann wollte ich mit ihnen sprechen können und ging in die Schule, um Deutsch zu lernen.“ Ein halbes Jahr lang fährt er zwei Tage die Woche in eine sechzehn Kilometer entfernte Sprachschule, alles auf eigene Kosten. Chamis Einkommen setzt sich aus den Tarifen, die er für die von ihm organisierten Ausflüge verlangt, aus Trinkgeldern und Provisionen zusammen. Wenn er beispielsweise eine bestimmte Anzahl an Touristinnen und Touristen zur Mondstein-Mine bringt, erhalten er und seine Familie von den Betreibern zum Sinhala und Tamil Neujahr im April – „das ist wie euer Weihnachten“ – neue Kleidung. Darüber, wieviele Leute er im Laufe einer Saison zur Mine bringt, führen beide Seiten Buch.

Die Saison hier im Südwesten der Insel geht von Oktober bis April, in der Zeit des Monsun kommen nur wenige Gäste. Das Geld, das Chami in diesen Monaten verdient, muss für das ganze Jahr reichen. „Die Ausgaben laufen ja weiter: Geld für die Schule, Geld für Essen, Geld für die Medikamente meiner Mutter.“ Seine offizielle Lizenz als Tourist Guide muss er jedes Jahr für 6000 Rupien verlängern. Die letzten drei Jahre seien besonders schwierig gewesen: Während der Corona-Zeit habe er als Palmenschneider gearbeitet, „eine sehr schwere Arbeit“, die „so so“ bezahlt würde. Auch in diesem Jahr laufe das Geschäft nicht gut. Für November seien noch viel zu wenig Gäste hier und die meisten von ihnen sprächen kein Deutsch sondern Russisch. Hinzu kommt die galoppierende Inflation, die mittlerweile siebzig Prozent beträgt.


Geschäft ist Geschäft


Chami ist dieses Jahr vierzig geworden. Unsere Frage, was er sich für seine Zukunft wünsche, versteht er erst beim dritten Anlauf. Eine Zukunft sieht er vor allem für seine Tochter Sandasi. Sie soll eine solide Ausbildung abschließen, „um zu einem guten Beruf zu kommen“. Ganz uneigennützig ist diese Hoffnung nicht. So wie er seine Mutter sollen auch seine Tochter und deren zukünftige Familie ihn und seine Frau im Alter erhalten. Ein Pensionssystem gibt es in Sri Lanka nur für Staatsangestellte.

Von konkreten Zukunftsplänen weiß Anuranga zu berichten. Zunächst gelte es, den Kredit für seine Motorradrikscha zurückzuzahlen und dann er möchte touristische Ausflugstouren in ganz Sri Lanka anbieten – sowohl als Fahrer als auch als Guide. An eine entsprechende Webseite denkt er ebenfalls. Bis es soweit ist, hält er sich mit lokalen Fahrten über Wasser. Wir sitzen auf einer Couch hinter einem Tischchen im Vorraum seines Hauses. Zwei pink-weiße Schultaschen stehen in der Ecke, darüber hängt das Hochzeitsfoto. Vor zehn Jahren ist Anuranga in das Haus seiner Frau gezogen und so lange arbeitet er auch in Ahungalla als Tuk Tuk Fahrer. Sein Arbeitstag beginnt um acht Uhr morgens und endet um zehn Uhr abends. Die überwiegende Zeit steht er, neben dutzenden anderen, an einem der Standplätze vor einem Hotel und wartet auf Kundschaft. Meistens sind es Touristen, manchmal Leute vom Ort, manchmal kommt ein Anruf, wie jener von Chami für eine Fahrt in den Kräutergarten. Das Gewerbe ist behördlich geregelt. In diesem Gebiet fahren 33 Tuk Tuks, die Fahrzeuge und Lizenzen werden regelmäßig überprüft. „Es ist ein hartes Geschäft“, erzählt er, „noch härter war es während der Corona-Pandemie.“ Bis heute sei es nicht wieder ganz in Schwung gekommen. Es mangele an Touristen und Devisen. Die aktuelle wirtschaftliche Krise hat dazu geführt, dass im Sommer der Treibstoff knapp wurde. Da konnte man schon einen ganzen Tag lang in der Schlange vor einer Tankstelle warten. Zur Zeit ist Treibstoff auf wöchentlich fünf Liter pro Person rationiert. Es gebe jedoch durchaus Möglichkeiten, an mehr Benzin zu kommen. Anurangas Lächeln weist daraufhin, dass es sich dabei wohl um nicht ganz legale Kanäle handelt. Der Preis pro Liter hat sich innerhalb eines Monats fast verdoppelt, er liegt jetzt bei umgerechnet gut einem Euro. Ob er auch schlechte Erfahrungen in seinem Beruf gemacht habe? Anuranga zögert. Nein, aber Nachtfahrten können gefährlich sein, auch die Überlandbusse sind aufgrund ihres überaus rasanten Fahrstils eine permanente Gefahr. Er selbst fahre vorsichtig. Wir klopfen drei Mal auf das Holztischchen und erklären die Bedeutung dieser Geste.

Wir steigen ein weiteres Mal in das grüne Tuk Tuk. Während der kurzen Fahrt betrachten wir die Karte Sri Lankas, die an der Innenseite angebracht ist. Farbprächtige Abbildungen von Tieren und Pflanzen locken in andere Küstenregionen und ins Landesinnere. Am Eingang zum spice garden empfängt uns Moganraj. Wir begleiten ihn zur gemauerten Laube, wo eine Woche zuvor seine Vorführung stattgefunden hat. Kaum haben wir Platz genommen, werden uns Tee und Ingwerkekse gereicht. Bevor wir eine Frage stellen, beginnt Moganraj uns seine Geschichte zu erzählen, die in der alten Residenzstadt Kandy ihren Ausgang nimmt. Dort sei er in einer tamilischen Familie, die zum christlichen Glauben konvertierte, aufgewachsen. Als er ein Kind war, habe seine Mutter beschlossen, die Religion zu wechseln, nachdem die hinduistischen Gottheiten sie nicht von ihrer Krankheit erlösen konnten. Sein Wissen über Ayurveda verdanke er seinem Vater, bei ihm habe er elf Jahre lang gelernt. In diesem Kräutergarten hier arbeite er zusammen mit drei weiteren „Doktoren“. Die Dienstzeiten sind geregelt, von neun bis achtzehn Uhr ist der Garten geöffnet und es gibt ein monatliches Fixum von 350 Dollar. Seine Aufgabe bestehe darin, Touristinnen und Touristen durch den Garten zu führen, ihnen die Pflanzen zu erklären, die Medikamente vorzuführen und zu verkaufen. Hergestellt werden die pflanzlichen Arzneimittel in speziellen Plantagen an verschiedenen Orten des Landes. Das Geschäft sei stabil, auch wenn im Moment wenige Urlaubsgäste hier seien. Es sei ihm wichtig, dass man freundlich bleibe, meint Moganraj, als wir zum Ausgang schlendern. „Auch wenn die Menschen nichts kaufen, möchte ich, dass sie mit einem guten Gefühl gehen.“ Alle drei lächeln. Wir falten die Hände vor der Brust, neigen die Köpfe und verabschieden uns.

Chami, Anuranga und Moganraj weben mit an dem feingliedrigen Netz, das sich in Sri Lanka um die touristischen Infrastrukturen spannt. Den in den großen Hotels beherbergten Gästen versuchen sie scheinbar authentische Erfahrungen zu verkaufen. Dass diese ebenso gut auf die Vorstellungen und finanziellen Ressourcen der Reisenden abgestimmt sind wie die Angebote in den Urlaubskatalogen, führt oft zu dem Gefühl, hintergangen oder gar betrogen worden zu sein. Ihre selbstständigen beziehungsweise an Provisionen geknüpften Einnahmen hängen von globalen Konjunkturen ebenso ab wie von den äußerst instabilen lokalen. Auch in diesem mikroökonomischen Kosmos gilt: Ein Geschäft ist ein Geschäft.

Über die Strände verteilt liegt die Hoffnung, dass sich das oft tagelange Warten lohne. Auf einem unserer folgenden Spaziergänge wartet Chami uns mit der nächsten Attraktion auf: Wir sollten unbedingt den Gemüse- und Fischmarkt in Ambalangoda, einer circa sechzehn Kilometer entfernten Stadt, besuchen. Nur Einheimische würden dort kaufen. Er lächelt, wir nicken.


  

und hier gehts zur Onlineausgabe der Reportage:

https://www.diepresse.com/6238060/die-beach-boys-von-sri-lanka?from=rss

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Markt in Ambalangoda, ca. 16 km von Ahungalla entfernt

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