Kochi

Nach Thiruvananthapuram fuhren wir in die nächste Stadt: Kochi. Genau genommen fuhren wir auf eine der Inseln der Stadt, die Fort Kochi genannt wird und die auch den gleichnamigen Stadtteil beherbergt. Nach Kochi fuhren wir vor allem aus zwei Gründen: Zunächst fahren alle Kerala Tourist:innen irgendwann nach Kochi. Es handelt sich dabei um eine alte Handelsmetropole, in der bereits Vasco de Gamma landete und sogar verstarb oder von der einst der Tiroler Händler Balthasar Springer 1509 einen ausführlichen  Bericht ablieferte. 

Kochi beflügelt die Phantasie der Europäer:innen, und zeigt ebenfalls, dass der freie Welthandel, ohne seine Mauern, Kanonen und militärischen Vorposten, kaum Bestand hatte. Zu sehen sind diese jedoch nur noch auf alten Fort Kochi Gemälden. Der Stadtteil ist ansonsten geprägt von diversen europäischen Einflüssen und ist neben dem angrenzenden jüdischen Viertel in Mattancherry  der Tourist:innen-Hotspot. Der zweite Grund war die größte Kunstausstellung Südost-Asiens, die Biennale Kochi. Diese wollten wir uns unbedingt ansehen.

Wir mieteten uns in einem kleines Hotel in genau diesem Fort Kochi ein und orientierten uns, was Restaurants, Cafes und Clubs betraf, an den Tipps und Vorschlägen unseres "lonely Planet" Reiseführer. Am ersten Abend riskierten wir einen Besuch in einem Club. Bis auf den Abend mit Sreekurma waren wir schon eine Ewigkeit nicht mehr nachts unterwegs und an diesem Abend sollte es soweit sein. Wir tranken noch ein Bier auf der Terrasse des Hotelrestaurants, und fuhren dann mit dem Lift in den dritten Stock in den Club. Die beiden Jungs im Lift bemerkten wahrscheinlich unsere Aufregung und plauderten mit uns die paar Sekunden, bis sich die Lifttür öffnete und wir im Club standen. Zwei Billardtische, ein Wuzler, viele Tische und Stehtische, eine riesige Leinwand auf der ein Cricketspiel lief, eine große Bar am Ende des Raums, am anderen Ende unter einer Laube, stand vor seinem Altar mit den Turntables der DJ und fingerte rhythmisch an irgendwelchen Reglern herum. Die meisten Tische waren leer - gut, es war ja erst 21 Uhr. Eine Person tanzte versteckt hinter dem DJ neben einer Holztheke.  Auffallend war, dass Eva, neben zwei anderen Tourist:innen, die einzige Frau war. Dafür einige Gruppen an jüngeren und älteren Männern. Wir holten uns ein Bier und setzten uns an den Rand. Rand bedeutet in dem Fall, an die Seitenmauer mit einem Holzsims und einem freien Blick auf den nur ein paar hundert Meter entfernten Fährhafen, das dunkle Meer und den Nachthimmel. Der Club war also seitlich offen und so konnte der Bass wunderbar in die abendliche Stadt hämmern. Wir reden und tranken dahin, irgendwann tanzten wir etwas auf der freien Fläche neben unseren Hockern, irgendwann kam ein neues Bier, wir tanzten weiter, mehr Menschen kamen - nach einiger Zeit sogar eine Gruppen mit Frauen und wir, wir landeten schließlich nach einem weiteren Bier auf der Tanzfläche, auf der sich mittlerweile ein Pulk an tanzenden Menschen angesammelt hatte. Wir mittendrin. Wir tanzten ausgelassen, bogen und beugten unser Körper, zuckten und schwangen unsere Arme im wohligen Disco-Beat und strahlten in andere verschwitzte und strahlende Gesichter tanzender Menschen. Wir waren cool, und unglaublich geschmeidig. Die Menschen zeigten uns den berühmten thumb up und  applaudierten uns zu und wir machten an diesem Abend wohl unsere “Where are you from?” “Austria.” “What’s your name?” “You like Kerala?”- Minikommunikation Nummer 501, 502, 503, 504 und 505. Der DJ gab sichtlich sein Bestes, holte alles was ging aus den Boxen und geizte nicht mit seinen Beats. Ich fühlte mich wie auf einem Techno-Fest der 1990er Jahre - jedoch in der kommerziellen Strandparty Version. Plötzlich mit Uhrschlag 23 Uhr hörte der DJ auf. Zunächst dachte ich, dass nun ein anderer weiter auflegen würde, doch dem war nicht so. Es war aus, Ende, die Lichter gingen an und die Menschen, so wie auch wir, gingen zurück auf ihre Plätze. 

So endete unser großer Clubabend weit vor Mitternacht. Aber auch gut, denn am nächsten Morgen stand der Besuch der Biennale an. 

Wir besuchten die Biennale an insgesamt drei Tagen. Wir machten in Kochi nicht viel mehr als Biennale besuchen und haben dennoch nicht alles gesehen. Sie war riesig und wirklich sehr, sehr interessant. So interessant, dass wir eigens etwas darüber schreiben werden - jedoch nicht hier, sondern in einer gesonderten Reportage, die wir auf dem freien Zeitungsmarkt verkaufen wollen. Nur soviel: Die Biennale hatte mehrere Ausstellungsorte. Drei große in Fort Kochi und ein paar Ausstellungen in den sogenannten Außenstellen, die gratis waren. Am dritten Tag verbanden wir das Sightseeing mit dem Besuch zweier Ausstellungen in den Außenstellen. Die erste die wir besuchten lag in einem Kaffeehaus im jüdischen Viertel, im Stadtteil Mattancherry, in der auch die älteste erhaltene Synagoge Indiens zu finden ist. Eine lebendige jüdische Gemeinde darf man sich jedoch nicht erwarten. Laut Wikipedia zu den “Cochin-Juden” sind die allermeisten Jüd:innen nach Israel ausgewandert, 2021 lebte nur noch eine jüdische Frau in Kochi. Das Viertel hatte etwas pittoreskes, vor allem das Gässchen, in dem sich Cafe und Synagoge befand. Es reihte sich ein Geschäfte mit Gewürzen, Tüchern, Kleidern, antiken Möbeln neben das Andere, es war die bisher einzige Fußgängerzone die wir in Kerala sahen und insgesamt wirkte es wie eine touristische Sonderzone. Nur: Wenn man jetzt nicht wirklich auf shoppen aus ist, hat das Viertel doch einen enden wollenden Reiz. Wir fuhren nach Kaffeehaus und Ausstellungsbesuch mit der  Rikscha an die Fährstation in Fort Kochi und setzten dann dort mit der Auto-, Moorräder-, Moped- und Fußgänger:innen-Fähre auf die Nachbarinsel Vypeen Island über. Dort gab es in der zukünftigen Water-Metro-Station ebenfalls eine Ausstellung, unter anderem von den Verkehrsbetrieben Kochi, die dort ihre zukünftigen Metrostationen als Ingenieurskunst darstellten und die Diversität ihres Unternehmens hervorhoben. Gesponsert wurde dieser Ausstellungsteil von der Indian Oil Cooperation.  

Auf Vypeen verbrachten wir anschließend noch den ganzen Nachmittag und Abend, da es dort so ruhig und entspannt war. Wir gingen vom Ausstellungsort vorbei an einem kleinen Busbahnhof zur Uferstelle, von der wir auf das gegenüberliegende Fort Kochi mit dem großen Ausstellungsgebäude blicken konnten. Dort setzten wir uns nieder.  Wir beobachteten die Fischer an der Kaimauer, wie sie immer wieder ihre Angelschnur ins Wasser warfen und warteten, wie ein Fischerboot, das vor Anker lag, von einem Polizeiboote geentert wurde und anschließend stapelweise Dokumente überreicht wurden, wir beobachtetn wie ein verrostetes Frachtschiff vorbei zog und zum Frachthafen an der Vembanad See fuhr, wir beobachteten zig-Mal wie die Fähre zwischen den beiden Inseln hin und her fuhr, wir beobachteten die auftauchenden Delphine in den Strömungen zwischen Vembanad See und arabischen Meer und vor allem beobachteten wir die Fischer der berühmten Chinesischen Fischernetze. Diese hölzernen Ungetümer, die nebeneinander am Ufer standen, mit ihren langen Stelzen an denen ein Kranarm befestigt war, an der vorn ein breites und kräftiges Netz geknotet wurde und an der anderen Seite hing ein Gegengewicht aus Steinen an einem Seil. Immer wieder senkte sich der Arm, bis das Netz eintauchte und nach einiger Zeit hob es sich wieder empor. Wir beobachteten, wie die Reiher von den Bäumen diesen Vorgang ebenfalls beobachteten und wie sich Fischer wie Reiher anschließend über den mickrigen Fang hermachten. Diese Chinesischen Fischernetze sind an beiden Seiten des Ufers zu finden. Bei Fort Kochi stehen sie direkt an der Promenade, auf der sich Läden und Verkaufsstände reihen, an denen Ströme von Tourist:innen vorbeiziehen. Ganz anders als hier in Vypeen, wo angenehmer Weise gar nichts los ist beziehungsweise ist hier zwar ebenfalls extrem viel los, es zeigt sich aber erst, wenn man sich niederlässt und in Ruhe zu beobachten beginnt. Später gingen wir noch die Kaimauer entlang in Richtung offenes Meer und beobachteten, wie die Sonnen am Horizont langsam unterging, davor war ein anderer Inselteil mit mehreren grauen, runden Türmen, die an Gasspeicher erinnerten, davor war ein graues Gebäudekomplex, davor ein Streifen Meer, ein rostiger Kahn im Wasser, daneben ein zweiter, weiter vorn war eine Horde Kinder, die zwischen strandenden Wellen und Gstetten, an einem Flecken Sandstrand Fußball spielten. 

In Kochi lernten wir am zweiten Tag in unserem Stammcafé - wer mittlerweile ein paar unserer Texte gelesen hat, wird wissen, dass wir es lieben, in kürzester Zeit unsere Gewohnheiten zu entwickeln und uns mit Stammcafés, Stammrestaurants oder Stammfahrern, zu umgeben - einen sehr freundlichen und aufgeweckten jungen Mann kennen. Saransh aus New Delhi fuhr mit seinem Motorrad (er sprach immer nur von bike (motorbike) und ich dachte anfangs er wäre mit dem Fahrrad von New Delhi hierher geradelt) los Richtung Süden, die Westküste entlang und war einfach unterwegs um, das Land zu genießen oder um.... Ja, warum eigentlich? Um nachzudenken?, vorauszufahren?, nachzukommen? oder einfach um Kopf und Geist durchzulüften? Saransh ist Ende 20 und arbeitet für eine Werbeagentur und macht dort Videos. Er ist der kreative Kopf und leitet die ganze Produktion. Studiert hatte er Literatur. Aber mit Literatur oder Literaturwissenschaft macht man kein Geld, deshalb Werbung. Aber mit Werbung macht man keinen Kopf, deshalb reisen. Ich glaub’ so war es. Ihm gefiel es, dass wir zwei Schriftsteller:innnen aus Europa waren, aus Wien. Zwei europäische Schriftstellerinnen wie aus dem Bilderbuch oder einer Graphic-Novel. Wir trinken mit Vorliebe Espresso (sein Kommentar zu Espresso: Schmeckt wie Elefantenmist), wir trinken Bier und zuhause höchstwahrscheinlich unmengen an Rotwein, wir kaufen noch richtige Bücher und nicht nur digitale, wir sind immer noch auf facebook, tippen mit zwei Finger am Handy und dergleichen mehr. Wir waren zwei Exot:innen und fühlten uns sichtlich wohl in der Rolle und wir agierten so gut und glaubhaft wie wir konnten. Wir lachten viel, wir diskutierten viel. Denn waren das nicht auch Fragen, die uns beide immer beschäftigten und beschäftigen? Wie wollen wir leben und was wollen wir tun? Was zählt, um was geht es im Leben? Vielleicht ging es Saransh auch darum, zukünftig etwas anderes zu machen, nicht nur beruflich, sondern eben: in diesem Leben. Wir redeten viel über traditionelle Gesellschaftsstrukturen, die beengend und belastend sein können oder gesellschaftliche Phänomene wie: "In India the people think just about money." Und damit meinte Saransh nicht den Kampf um's Überleben, sondern um den größtmöglichen Konsum und den damit verbundenen Status. Es gibt bestimmte ethische und politische Fragestellungen, die wiederkehren - über Zeiten, Generationen und auf verschiedensten Flecken dieser Erde, und die Menschen versuchen für sich zu beantworten. Sie sind nicht leicht und schon gar nicht leichtfertig zu entscheiden. Ich versuchte ihm in holpernden Englisch zu erklären, dass es wichtig ist, ein gutes  Umfeld zu haben, gute Freunde und Freundinnen, mit denen man darüber reden kann und an denen man sich orientieren kann. Allein ist alles so furchtbar schwierig.

Wir trafen Saransh mehrmals auf einen Kaffee, zum Bier oder zum Abendessen im Fischrestaurant - wo er uns erklärte, dass er Vegetarier sei und wir ganz peinlich berührt waren, da wir das nicht wussten und ansonsten natürlich kein Fischrestaurant vorgeschlagen hätten. Aber er nahm es gelassen und gratulierte uns zu unserer Zwei-Personen-Fischplatte die wir schnaubend und rülpsend verdrückten. Danach gingen wir auf einen Tee in sein Hostel. Eva und Saransh rauchten, wir tranken Tee und Saransh erzählte uns von New Dehli, der viel zu groß geratenen Kleinstadt, die keine Metropole wie Mumbai sei, sondern ein unübersichtliches Meer an Häusern. Eine Stadt, in der obdachlose Menschen auf dem Mittelstreifen der Stadtstraßen schlafen, da der Fahrtwind der Autos verhindert, dass sie von den Moskitos aufgefressen werden. Eine Stadt, in der es im Sommer kochend heiß wird und im Winter bitterkalt. Eine Stadt, in der man die Hälfte des Jahres seine Wohnung nicht verlassen kann und in der man tagelang in der U-Bahn verbringen könnte, da es dort so klimatisch angenehm ist. Gespannt lauschten wir seinen Ausführungen und träumten uns in einen zukünftigen Besuch - gemeinsam mit Saransh durch dieses New Delhi streifend.... - wer weiß, vielleicht irgendwann. Später verabschiedeten wir einander im gelben Laternenlicht auf der Straße vor seinem Hostel. Wir umarmten einander und drehten uns noch ein, zwei Mal um, um zu winken. Wir wünschen ihm auf seiner weiteren Fahrt, ob mit Motorrad, mit Fahrrad oder mit der U-Bahn und vor allem auf seinem Lebensweg alles erdenklich Gute. Saransh mögest du viele gute Wege finden!